Predigt zum 5. Sonntag im Jahreskreis 2015 – Lesejahr C (Pfr. Michael Witti)
„Work-Life-Balance“ – dieser Begriff taucht heute nicht nur auf einem angenehmen Wellness-Wochenende immer wieder auf. Auch die Arbeitsmedizin spricht immer mehr davon in einer Zeit, in der viele Menschen zunehmend unter ihrer Arbeit leiden, ja, keine Kraft mehr haben, innerlich ausbrennen. Häufig ist heute dann die Diagnose „Burnout“ zu hören.
„Work-Life-Balance“ will dem etwas entgegensetzen. Es meint ja das innere Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Dienst und Muße, zwischen Leistung und Erholung, zwischen Aktion und Kontemplation, zwischen echten Mitgefühl und eigener Psychohygiene. Wie schwierig es oft ist, einem Menschen wieder zu diesem inneren Gleichgewicht zu verhelfen, davon können Ärzte und Therapeuten in vielen Fachkliniken ein trauriges Lied singen. ein
„Work-Life-Balance“ – einen ganz eigenen Zugang zu diesem Lebensthema, ja, zu dieser ständigen auch geistlichen Lebensaufgabe, gibt mir das heutige Evangelium. Jesus selber lebt es mir geradezu vor.
Er ist ja einerseits ganz und gar bei den Menschen. Er hat scheinbar ein allzeit offenes Auge für die, die ihn brauchen. In großer Einfühlsamkeit lebt er mitten unter den Menschen, spürt er ihre Anliegen, ihre Sorgen, ihre Nöte, ihre Verletzungen an Leib und Seele. Er ist ganz für sie da – ein Kraftakt für jeden, der das auch nur versucht. Jesus heilt Menschen, die Schwiegermutter des Petrus ebenso, wie viele andere. Er gibt ihnen seine Kraft, seine Zeit, seine Aufmerksamkeit. So will er Menschen spüren lassen, wie Gott für sie ist. Dabei lebt Jesus geradezu das, was heute die kirchliche Soziallehre auch sagt: Er überschüttet die Menschen nicht mit einer Fülle von Wohltaten, um selber möglichst gut dazustehen. Er ist keiner, der einfach nur mal die göttlichen Spendierhosen anhat und eine tolle Heilungs-Show liefern will. Er spürt genau, was der einzelne braucht, was der Mensch sich selber nicht mehr geben kann. Er leistet ihm die nötige Hilfe zur Selbsthilfe. Das sehen wir an der Schwiegermutter des Petrus. Er heilt sie, damit sie wieder auf ihren eigenen Füßen stehen und ihr Leben wieder eigenständig leben kann. Und die Schwiegermutter bleibt auch trotzt der Wunderheilung ganz „am Boden“ und nimmt ihre gewohnte häusliche Arbeit wieder auf. So verstehen wohl auch die frühen Gemeinden ihr Christsein. Sie sehen und spüren, was der andere gerade braucht und helfen dort, wo der Mensch sich selbst nicht helfen kann.
Dieses einfühlsame Dasein für andere war damals nicht immer einfach und es ist es heute wohl oft noch weniger. Es kostet Kraft, viel Kraft, so bei und mit und für die Menschen zu leben. Heute können wir ja beobachten, wie gerade in sozialen Berufen – und auch bei manchen meiner Mitbrüder oder auch ehrenamtlich engagierten – „Burnout“, das innere Ausbrennen und kraftlos werden, um sich greift. Aber auch hier zeigt mir Jesus im Evangelium einen klaren Weg:
Jesus steht auf, geht weg, lässt zeitweise alles hinter sich. Er geht in die Einsamkeit, um dort zu beten. Jesus zeigt mir, dass niemand immer nur geben kann, keine Mutter und kein Vater, keine Ärztin und kein Therapeut, keine Ehrenamtliche und auch kein Seelsorger. Wir alle – das zeigt uns hier Jesus – können nur die Kraft weiterschenken, die wir selber immer wieder empfangen.
Meine Lieben,
„Work-Life-Balance“ hat daher für mich auch eine spirituelle Dimension. Ich kann mich nicht immer nur um die anderen sorgen, wenn ich nicht auch gleichzeitig in guter Weise für mich selber sorge. Wo haben Sie Orte, an denen sie Kraft schöpfen können? Wo erleben Sie Zeiten, in denen Sie sich von Gott geliebt und getragen erleben? Wo ist – wie bei Jesus – Ihr „einsamer Ort“, der Ihnen hilft, Körper, Geist und Seele immer wieder in ein gutes und erfüllendes Gleichgewicht zu bringen?
Ich wünsche es Ihnen und mir, dass wir auch in diesem geistlichen Sinne immer wieder zu einer guten „Work-Life-Balance“ finden. Ich wünsche es Ihnen und mir, dass wir auch betend und schweigend immer wieder erleben, welche Kraft dieser Gott uns geben will. Dieser Weg des inneren Gleichgewichtes ist nicht immer einfach, aber vielleicht kann er uns so gelingen, wie es Cäcilia Kittel in einem Impuls zur stillen Anbetung einmal beschreibt:
Mein Alltag ist überfüllt mit Terminen und Trubel und ich bin mitten drin, nichts wünsche ich mir sehnlicher, als dass es doch einmal ruhig und still sei. Dann ist sie endlich da, die Stille, und ich bin mitten drin und merke, wie schwer sie auszuhalten ist, schwerer als der Trubel und Lärm. Da kommen Gedanken, Bilder, Gefühle, und mitten drin bin ich. Ich habe mich mir immer ganz anders vorgestellt, anders als das, was ich in der Stille von mir entdecke. Ich bin erstaunt, ja, erschüttert, was sich in mir alles zeigt. Da gibt es nicht nur angenehme Seiten, auch tiefe Abgründe tun sich auf, schmerzliche Seiten, denen ich am liebsten ausweichen möchte. Ich brauche Mut, um mir selbst in der Stille nicht aus dem Weg zu gehen. Wenn ich zulasse, in der Stille dort anzukommen, wo ich ganz alleine bin, dann spüre ich, dass da jemand ist, ein Gegenüber, das mir so vertraut ist, dass ich »Du« sagen kann. Mit ihm ist es ein wenig leichter, mein Inneres anzuschauen, die Stille auszuhalten, nicht wegzulaufen, denn er zeigt nicht mit dem Finger auf mich, er hält mir seine Hand hin. Dann wird die Stille auf einmal warm, sie füllt sich, nein, nicht mit Lärm, nicht mit Tönen, nicht einmal mit Worten. Die Stille füllt sich mit Trost. Und dann wandelt sich der Trost in Leben.[1]
Amen.
[1] Aus: Cäcilia Kittel, Sei stille dem Herrn. Impulse zur Eucharistischen Anbetung. Don Bosco Verlag, München 2006.