Predigt zum 5. Fastensonntag 2015 – Lesejahr B – Pfr. Michael Witti
„Mit lautem Schreien und unter Tränen…“, dieses Bildwort der zweiten Lesung lässt mich nicht mehr los. Viele Bilder tauchen da vor meinem inneren Auge auf, Erinnerungen an dunkle Stunden, an Erlebnisse mit Menschen in Grenzsituationen.
„Mit lautem Schreien und unter Tränen…“ – Ich sehe das ausgezehrte Gesicht eines lieben Menschen, gezeichnet von Krankheit und Schwäche, von Schmerz und Kraftlosigkeit. Ich höre die Klagen, spüre die Tränen von Menschen angesichts einer schlimmen Diagnose.
„Mit lautem Schreien und unter Tränen…“ – Ich sehe da auch manche alten Menschen vor mir. Jahrzehntelang lebten sie in enger Partnerschaft mit einem geliebten Du. Und plötzlich ist man alleine. Klagen, Tränen, was sonst würde noch bleiben?
„Mit lautem Schreien und unter Tränen…“ – Ich denke auch an manche Eltern. Mitten im Alltag erreicht sie die alles verändernde Nachricht. Ein Kind kommt nicht wieder. Ein Unglücksfall hat ein Opfer gefordert, das schwerer und grausamer nicht sein könnte. Schreien – Tränen, das ist dann oft noch die einzige Sprache, die bleibt.
Das, was all diese Schicksale verbindet, ist das tiefe Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Egal, wie sehr ich mir auch etwas anderes wünschen würde, wie sehr ich es herbeisehnen, herbeibeten möchte, ich bin unausweichlich von einem dunklen, tödlichen Schicksal umfangen.
„Als er auf Erden lebte, hat er mit lautem Schreien und unter Tränen Gebete und Bitten vor den gebracht, der ihn aus dem Tod retten konnte…“ – Jesus selbst wird an kaum einer anderen Stelle des Neuen Testamentes so radikal menschlich dargestellt. Er war ganz und gar Mensch! Er ging auch als Gottessohn keinen „billigen Sonderweg“. Er teilte auch die dunkelsten Stunden, die schwersten Erfahrungen, die tödliche Einsamkeit mit allen anderen Menschen.
Und der Hebräerbrief zeigt hier noch mehr: Jesus ist über alle Zeiten hinweg eins mit all denen die gestern, heute und morgen ähnliche Erfahrungen machen mussten und machen müssen.
„Obwohl er der Sohn war, hat er durch Leiden den Gehorsam gelernt“. Er war der Sohn, aber auch er musste diesen schwersten Weg des Menschseins gehen. Wie schwer das auch für Jesus war, zeigt schon die Wortwahl, dass auch er diesen „Gehorsam lernen“ musste.
Radikal menschlich wird uns Jesus hier gezeigt. Aber dennoch bleibt der Hebräerbrief dabei nicht stehen, denn „zur Vollendung gelangt, ist er für alle, die ihm gehorchen, der Urheber des ewigen Heils geworden“. Tränen und Schreie sollen nicht länger in der Hoffnungslosigkeit enden. Die dunklen Stunden, die Menschen durchleiden, sollen nicht länger im schwarzen Loch der Sinnlosigkeit enden.
Meine Lieben,
OSTERN, Jesu Auferstehung, sein Weg durch den Tod hinein ins Leben, hat alles verändert, lässt auch sein eigenes Leiden und Sterben in der Rückschau hoffnungsvoll erscheinen. Er, der ganz Mensch war, ging den Weg, der seither allen Menschen offensteht. Den Weg, der auch im größten Dunkel noch die Hoffnung auf Licht, der noch im Tod die Hoffnung auf Leben aufrechterhalten will.
Jesus ist der, der die dunklen Stunden des Menschseins kennt, der sie selbst erlebt hat. Doch hat er für jeden Menschen das Tor geöffnet, das über den Tod hinausgeht.
Er verspricht auch Dir und mir: Kein Schmerz, keine Träne wird vergessen. Jeder Mensch soll letztlich erhört und aus seiner Angst befreit werden!
Amen.
(Foto: Wagner/Pfarrbriefservice.de)