ich hab sie selbst nicht mehr kennengelernt, die „Desch’n-Mutter“, meine Urgroßmutter, aber ich hätte es sehr gern. Sie muss eine unendlich liebenswerte, aber auch starke und interessante Frau gewesen sein. 16 Kindern hat sie am Beginn des 20. Jahrhunderts das Leben geschenkt. Als der jüngste geboren wurde, waren einige der älteren Brüder nach der Erfahrung des Ersten Weltkrieges und den wirtschaftlichen Niedergangs schon nach Amerika ausgewandert.
Besonders heute würde ich gern mit der alten „Desch’n-Mutter“ reden, nicht nur weil heute der Muttertag ist, sondern auch, weil sich am Freitag das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung Deutschlands durch die Alliierten zum 70. Mal gejährt haben. Beide Weltkriege samt der dazwischenliegenden Notzeit musste die „Desch’n-Mutter“ mit ihrer Familie auf dem kleinen Anwesen in Tutting bei Kirchham erleben. Dabei hat sie den Ihren viel mehr mitgegeben, als nur den heute vergleichsweise kärglichen Ertrag der kleinen Landwirtschaft. Sie war eine Frau, die ihren Kindern in diesen schwierigen Zeiten ein festes Rückgrat und einen ebenso festen Glauben mitgeben wollte. Das war kein frömmlerischer abgehobener Glaube, sondern einen, der sie als mutige Christin mitten im Leben aufrecht und menschlich stehen ließ. Ich weiß nicht viel von ihr, aber eine Begebenheit hat sich mir tief eingeprägt:
Zwischen meiner Heimat Kirchham und Pocking war während des Krieges ein KZ-Außenlager. Unter menschenunwürdigen Bedingungen sollten die Häftlinge des Unrechtsstaates dort in der Pockinger Heide den Fliegerhorst ausbauen. Immer wieder wurden Häftlinge am Tuttinger Bahnhof aus den Viehwagons entladen und von SS-lern brutal durchs Dorf hin zum Lager getrieben. Immer wieder soll damals die „Desch’n-Mutter“ gekochte Kartoffeln an den Straßenrand gelegt haben, in der Hoffnung, dass einer der Elenden nicht nur ein wenig zu essen, sondern auch ein kleines Zeichen der Menschlichkeit bekommen sollte. Allein das hätte damals schon genügt, um ihr größte Schwierigkeiten zu bereiten. Aber eines Tages geschah noch mehr…
Es war an einem Karfreitag. Die „Desch’n-Mutter“ hatte ein wenig Fisch als Fastenspeise für die Ihren bereitet. Ein einzelner KZ-Häftling wurde von einem SS-ler Richtung Lager getrieben. Es war wohl so, als würde sich der grausame Kreuzweg Jesu mitten im Dorf abspielen. Schon damals, bei Jesus, hatten nur die Frauen den Mut, ihm Mitleid und Beistand zu zeigen. Meine Urgroßmutter, so wurde mir wieder und wieder erzählt, sei damals dem SS-ler auf der Straße entgegengetreten. Es muss ihr schwer gefallen sein, aber sie hat ihn zum Mittagessen eingeladen, wohl wissend, dass der Häftling in dieser Zeit ein wenig Schonung erfahren konnte. Während der eine in der Stube gegessen hat, haben die Kinder den anderen im Hausflur versorgt, ihm gegeben, was sie ihm auf die Schnelle nur geben konnten. Als die „Desch’n-Mutter“ auf den Flur kam, nahm er sie in den Arm. Mit französischem Akzent sagte er, er sein ein Bischof, der im Widerstand gefangen genommen wurde und er segnete sie und ihre Familie. – Karfreitag mitten im Krieg.
Meine Lieben,
gern wüsste ich noch mehr von meiner Urgroßmutter. Gern würde ich mich am heutigen Muttertag mit ihr unterhalten, mir vieles erzählen lassen, damit ich nicht nur die Geschichte meiner Familie, sondern auch die Geschichte unserer Heimat und unseres Landes hier besser verstehen könnte.
Eines aber kann ich heute von ihr lernen, eines, das auch unzählige andere Mütter und Großmütter mit aller Kraft, zu der sie nur fähig sind, den Kindern mitgeben wollen: die Fähigkeit verantwortungsbewusst, wahrhaft menschlich und liebevoll zu leben.
Es sind wohl die Mütter, die am heutigen Sonntag mehr noch als alle anderen verstehen, was Jesus uns im Evangelium als Weisung für ein gelingendes menschliches Leben mitgeben will:
„Bleibt in meiner Liebe! … Ihr seid meine Freunde, wenn ihr tut, was ich euch auftrage… Dies trage ich euch auf: Liebt einander!“
Amen.
(Foto: Pfarrbriefservice.de)