Meine Lieben,
da haben sie die Verlierer-Karte gezogen, die beiden Zebedäussöhne Jakobus und Johannes. Große Nummern wollten sie sein. Die „Honoratiorenposten“ wollten sie sich im Reich Gottes sichern. Warum auch nicht? Schließlich folgen sie diesem Jesus die ganze Zeit nach, da kann er ihnen doch auch im anbrechenden Reich einen guten Posten zuschanzen. So war es jahrhundertelang in unserer Kirche üblich, so läuft es heute noch bei der FIFA und womöglich auch beim Deutschen Fußball Bund.
Nur Jesus macht ihnen hier einen Strich durch die Rechnung. Bei Euch soll das nicht so sein. Bei Euch kommt es auf etwas ganz anderes an. Das schreibt er nicht nur den beiden Brüdern, sondern auch uns allen hier heute am Kirchweihsonntag ins Stammbuch. Jesus stellt eine klare Frage – eine Frage, die auch für uns Christen heute die alles entscheidende sein kann:
„Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke…?“
Für den Theologen und Priester Henry Nouwen wurde sie zur Lebensfrage. Er selbst beschreibt das so:
»Ich erinnere mich noch genau an den Tag…, an dem der betreffende Abschnitt aus dem Evangelium, in dem Jesus diese Frage stellt, als Evangelium bei der Eucharistiefeier vorgelesen wurde. Es war halb neun Uhr morgens. Gut zwanzig Mitglieder der Daybreak-Gemeinschaft hatten sich in der kleinen Kapelle, die sich im Untergeschoß … unseres Begegnungszentrums … versammelt. Plötzlich traf mich die Frage „Könnt ihr den Kelch trinken?“ wie der spitze Pfeil eines Jägers mitten ins Herz. In diesem Augenblick wusste ich blitzartig, dass diese Frage, nähmen wir sie wirklich ernst, unser Leben von Grund auf verändern würde…
„Könnt ihr den Kelch trinken? Könnt ihr ihn bis auf den Grund leeren? Seid ihr bereit, ihn mit allen Leiden und Freuden, die er enthält, auszukosten? Seid ihr bereit, euer Leben mit allem, was immer es bringen mag, anzunehmen?“ Mir war klar geworden, dass diese schwerwiegenden Fragen uns selbst betreffen.
Warum aber sollen wir diesen Kelch trinken? Es gibt doch so viel Leid, so viel Angst und Not, so viel Gewalt. Warum sollen wir denn den Kelch trinken? Wäre es nicht viel einfacher, ein ganz normales Leben mit einem Minimum an Leid und einem Maximum an Vergnügen zu führen?
Nachdem das Evangelium vorgelesen war, ergriff ich spontan einen der großen Glaskelche, die vor mir auf dem Tisch standen, blickte die um mich versammelten an – einige von ihnen konnten kaum gehen, sprechen, hören oder sehen – und sagte: „Können wir den Kelch unseres Lebens in unseren Händen halten? Können wir ihn erheben, damit andere ihn sehen? Und können wir ihn bis zur Neige trinken?“ Den Kelch trinken, das bedeutet weitaus mehr, als alles, was er enthält, einfach hinunterschlucken… Den Kelch des Lebens trinken, das heißt ihn HALTEN, ERHEBEN und TRINKEN. Es ist die ganzheitliche Feier unseres Menschseins.
Können wir unser Leben halten, können wir unser Leben erheben und es trinken, wie Jesus es getan hat? Bei einigen, die mit mir um den Altartisch versammelt waren, sah ich Zeichen von Zustimmung, doch ich selbst habe eine tiefe Einsicht gewonnen. … Lange nach jener einfachen morgendlichen Eucharistiefeier hörte ich im Geiste immer wieder die Frage Jesu: „Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinken werde?“«
Durch Henry Nouwen wurde diese Frage auch für mich zu sehr wichtig. Die drei Schritte beschäftigen mich immer wieder: Den „Kelch des Lebens“ halten, erheben und trinken.
Den „Kelch des Lebens“ halten meint, mein Leben halten, es mir vor Augen halten, es ohne Angst anschauen, manchmal auch es aushalten können und müssen. Den „Kelch des Lebens“ halten meint, hinzuschauen, was dem Leben förderlich ist. Den „Kelch des Lebens“ halten meint, sowohl den Kelch des Leidens, als auch den Kelch der Freude, die beide zum Leben gehören, anzunehmen. Es meint, „Ja“ zu sagen, zu diesem Leben, das Gott mir jeden Tag schenkt, so, wie es ist.
Dann gilt es den „Kelch des Lebens“ zu erheben. Das meint, andere an meinem Leben teilhaben zu lassen, sie ein Teil meines Lebens werden lassen. Ich darf dann dieses Leben als etwas Wertvolles gemeinsam mit anderen leben und feiern, wenn ich den „Kelch des Lebens“ erhebe.
Und schließlich sollen ich den „Kelch des Lebens“ trinken. Das bedeutet, dass ich alles, was mein Leben so mit sich bringt, als zu mir gehörig annehmen darf. „Das ist mein Leben! Das gehört eben auch zu mir!“ Den „Kelch des Lebens“ trinken heißt, ja zu sagen, zu mir und meinem einmaligen Dasein, so wie es ist, mit allem Schönen und Schweren, das dazugehört.
Meine Lieben,
den Kelch meines Lebens halten, erheben und trinken. Leben jeden Tag bewusst zu erleben, es mit anderen als wertvoll zu erfahren und es im Vertrauen auf Gott für mich und mit anderen als Gabe und Aufgabe anzunehmen, dazu lädt mich dieser Kirchweihsonntag ein. Wenn mir das gelingt, kann ich inmitten einer lebendigen Kirche Gott spüren und seinen Auftrag für mich. Der einst in die Wüste geschickte und nun von Papst Franziskus wieder brüderlich empfangene ehemalige Bischof von Evreux, Jaques Gaillot, beschreibt das so:
Eine aufbrechende Kirche Wir wurden als Christen nicht dazu berufen, für das Überleben der Kirche zu sorgen, sondern für das Wohl und Heil der Menschheit. Wir sind nicht Mitglieder der Kirche, um die Strukturen und die Kirchen-Institutionen besser zum Funktionieren zu bringen, sondern um uns an dem Projekt Jesu Christi zu beteiligen, das da heißt: die Menschen sollen das Leben in Fülle haben.
Amen.