Meine Lieben,
Ein Mensch denkt jäh erschüttert dran,
was alles ihm geschehen kann
an Krankheits- oder Unglücksfällen,
um ihm das Leben zu vergällen.
Hirn, Auge, Ohr, Zahn, Nase, Hals;
Herz, Magen, Leber ebenfalls,
Darm, Niere, Blase, Blutkreislauf
zählt er bei sich mit Schaudern auf,
bezieht auch Lunge, Arm und Bein
nebst allen Möglichkeiten ein.
Jedoch, sogar den Fall gesetzt,
er bliebe heil und unverletzt,
ja, bis ins Kleinste kerngesund,
wär doch zum Frohsinn noch kein Grund,
da an den Tod doch stündlich mahnen
Kraftfahrer, Straßen-, Eisenbahnen;
selbst Radler, die geräuschlos schleichen,
sie können tückisch dich erreichen.
Ein Unglücksfall, ein Mord, ein Sturz,
ein Blitz, ein Sturm, ein Weltkrieg – kurz,
was Erde, Wasser, Luft und Feuer
in sich birgt, ist nie ganz geheuer.
Der Mensch, der so des Schicksals Macht
ganz haargenau bei sich durchdacht,
lebt lange noch in Furcht und Wahn
und stirbt – und niemand weiß, woran.1
Eugen Roth gab diesem Gedicht den Titel „Der Schwarzseher“. In treffendem Sprachwitz verpackt beschreibt er einen typischen Zeitgenossen. Immer geht der nur vom Schlimmsten aus. Immer sieht er nur die möglichen Gefahren. In jeder Suppe findet er das berühmte Haar. Ein Stück weit finde wohl nicht nur ich mich in diesem „Schwarzseher“ wieder.
Wir Menschen suchen im Leben nach Glück. Aber wie oft zermartern wir uns das Hirn über mögliche Gefahren und sehen nicht mehr das Gute, das Schöne und das Liebenswerte des Lebens? Eugen Roth hält mir da mit seinem „Schwarzseher“ einen Spiegel vor, einen, der mir helfen kann, auch die Seligpreisungen und die Wehe-Rufe Jesu aus dem Evangelium heilsam zu verstehen.
Auf den ersten Blick könnten Jesu Worte ja fast zynisch wirken. Er preist die Armen und Elenden selig und droht denen, die es zu etwas gebracht haben. Aber er meint es wohl ganz anders.
Er will uns mit diesem scharfen Worten wohl davor bewahren, zu hoffnungslosen Schwarzsehern zu werden.
Denen, die hungern, die trauern, die weinen und verzweifelt sind, die ausgestoßen, beschimpft und verfolgt werden, macht Jesus Mut: „Selig seid ihr!“ Ihr seid nicht allein! Gebt nicht auf! Gott ist an Eurer Seite! ER will Euch Zukunft schenken!
Aber auch denen, die es auf den ersten Blick gar nicht nötig haben, will Jesus Mut und Hoffnung geben: Den Reichen, den Satten, den Fröhlichen, denen, die von ihren Mitmenschen oft genug bewundert und auch beneidet werden, sagt Jesus: Begnügt euch damit nicht. Das Leben hat mehr zu bieten, als essen und trinken, als Geld und Karriere, als „Fun“ und „Action“, als Genuss und Vergnügen.
Vergiss nicht die Menschen, die dich lieben und deren Liebe du zum Leben brauchst. Vergiss nicht die kleinen Dinge, die das Leben oft erst lebenswert machen, die du für kein Geld der Welt kaufen kannst. Vergiss nicht, dass es nicht selbstverständlich ist, dass du so leben darfst, wie du lebst. Es ist nicht dein Verdienst, in einem der reichsten Länder der Erde geboren zu sein.
Meine Lieben,
es ist also nicht der berühmte „erhobene Zeigefinger“. Es ist Jesu Einladung zum bewussten Leben. Es liegt an mir, ob ich mich darauf einlassen, oder ob ich als ängstlicher Schwarzseher durchs Leben gehen will. Amen.
1Aus: Eugen Roth, Ein Mensch. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1995.
(Text/Bild: Witti)