Meine Lieben,
er war für mich immer die erbärmlichste Figur der ganzen Passionsgeschichte: Judas mit dem Beinamen Iskariot.
Zweimal nur wird er am Beginn der Leidensgeschichte nach Johannes erwähnt. Aber das reicht, um zu spüren, was das für einer ist.
„Judas holte die Soldaten“, hieß es da eben. Er war der, mit dem an Unglück seinen Lauf nahm. Er stand am Anfang dieses mörderischen Unrechts, dieser gotteslästerlichen Unmenschlichkeit. Wenige Zeilen später wird er nochmals namentlich genannt – und da wird auch klar gesagt, was er für einer ist: „…Judas, der Verräter, stand bei ihnen“, hieß es da. Ein erbärmlicher Verräter, das war für mich Judas immer…
Dabei hatte er doch einst die gleiche unbändige Hoffnung, wie die übrigen Elf. Er war genauso fasziniert von Jesus, wie anderen. Und dann das…
Manche Theologen versuchen es so zu erklären: sein Beiname „Iskariot“ könnte bedeuten, dass Judas vor der Begegnung mit Jesus zur Gruppe der Sikarier gehörte. Das waren Guerillakämpfer, die mit Anschlägen aus dem Hinterhalt die Römer aus dem Heiligen Land vertreiben wollten. Blut, viel Blut, klebte an den Händen dieser fanatischen Freiheitskämpfer. Wenn Judas einer von ihnen war, hat er wohl irgendwann gemerkt, dass dieser Kampf keine Freiheit brachte. Er sah dann wohl in Jesus den großen Befreier, den, der dem Volk das Land der Väter, das Land der Verheißung, wiedergeben könnte. Judas hoffte auf Jesus. Viel Volk folgte ihm ja.
Aber dieser Jesus war dann doch ganz anders. Er predigte Vergebung und Barmherzigkeit. Er sprach von Feindesliebe und davon, dass man dem, der einen schlägt, auch noch die zweite Backe hinhalten sollte. So konnte man das Land nicht befreien.
Manche vermuten, Judas wäre ein enttäuschter gewesen. Einer, der Jesus nicht mehr verstehen konnte, inmitten all des Unrechts, all der Unterdrückung und Gewalt jener Tage: „Gott, wie kannst du das zulassen? Gott warum?“
Wenn es so gewesen wäre, dann hätte Judas Jesus mit seinem Verrat wohl zwingen wollen, endlich machtvoll einzugreifen, endlich die Dinge zu ändern. Aber Jesus tat das nicht.
Judas kann Jesus nicht mehr verstehen. Judas kann den Gott, den Jesus verkündet, nicht mehr verstehen. „Warum?“ – Diese Frage hämmert in seinem Kopf.
Und plötzlich ist mir Judas sehr nahe – näher, als mir lieb ist. „Warum?“ – Wie oft bohrt sich diese Frage nicht auch in meinen Kopf? Wie oft, kann auch ich Gott nicht verstehen? Wie oft will auch ich ihm einfach nur entgegenschreiben: „Warum? Wie kannst du, Gott, das alles zulassen?“
Meine Lieben,
Judas ist mir oft näher, als ich lange dachte. Vielleicht hilft mir gerade auch dieser Judas den Karfreitag tiefer zu verstehen.
Karfreitag, das ist nicht nur ein stilles Zwischenspiel, bevor dann in der Osternacht der laute Jubel wieder ausbricht. Karfreitag, das ist brutale Wirklichkeit – auch heute noch.
Der Karfreitag zwingt mich, die Augen nicht länger vor dem Kreuz zu verschließen; das Kreuz in meinem Leben nicht zu einem folkloristischen Schmuckstück verkommen zu lassen.
Der Karfreitag zwingt mich, Jesu Kreuz täglich neu in all den ungezählten Kreuzen zu sehen, die Menschen auch heute noch zu tragen haben.
Der Karfreitag ist kein stilles Zwischenspiel, kein kurzes Atemholen vor dem Osterjubel. Der Karfreitag zeigt mir wie brutal das Leben, wie brutal der Mensch auch heute noch ist.
Der Karfreitag lässt auch in mir den stummen Schrei des Judas aufkommen:
„Warum, Gott? Warum?“
(Text: Witti)