Meine Lieben,
Reinhold Stecher, der vor drei Jahren verstorbene Altbischof von Innsbruck, war ein enger Freund unseres verstorbenen Altbischofs Franz Xaver Eder. Als ich noch Kaplan in Bad Füssing war, standen die beiden in ihrer humorvollen und zutiefst menschlichen Art einmal plötzlich vor meiner Haustür und ich war tief beeindruckt von ihrer ungezwungenen Herzlichkeit. Bischof Stecher hat viele Anekdoten, aber auch viele geistliche Texte verfasst, die manches in der Theologie und Frömmigkeit erden und auf den Punkt bringen können. Gedanken zur Passion Jesu, die ich gerade auch heute wieder für sehr aktuell halte, möchte ich Ihnen an diesem Karfreitag mitgeben. Bischof Reinhold Stecher schrieb es so:
„Vielleicht möchten Sie sich in diesen Minuten geistigerweise am liebsten in stille, hohe Kathedralen führen lassen, in denen uns ein frommer Schauer anweht. – Es tut mir leid, aber ich muss Sie heute in einen Kasernenhof einladen. Kasernenhöfe vermitteln keinen frommen Schauer, vor allem nicht der Kasernenhof der Burg Antonia in Jerusalem, in dem ein ekelhaftes Spektakel herrscht. Den Söldnern der syrischen Legion wird ein seltenes Vergnügen geboten: Endlich hat man einen Messiaskönig dieser jüdischen Nationalisten, mit denen man sich seit Jahr und Tag in einem gnadenlosen Kleinkrieg herumschlägt. Endlich haben sie, die syrischen Söldner, einen führenden Mann ihrer Erbfeinde, an dem sie ihr Mütchen kühlen können. Man spielt Triumphator mit der bleichen Gestalt. Siegeskranz, Purpurmantel, Feldherrnstab – alles ist da. Der Spaß kann losgehen. Das entschädigt für viele, harte Einsätze, die einem dieses verdammte, fanatische Volk eingebrockt hat. Der blasse, blutende Mann inmitten der höhnenden, tobenden Meute schweigt. – Warum sagt Er nicht, dass ihn die Fanatiker des eigenen Volkes hassen, weil Er eben nicht ein Messias nach ihrem Herzen sein wollte? Warum sagt Er nicht, dass Er damals in die Berge ging, als sie Ihn mit Gewalt zum König machen wollten? Warum redet Er nicht davon, dass Er immer schon gegen Gewalt und Schwert und Dreinschlagen war? – Es sind so viele samaritanische Soldaten da – wissen sie denn nicht, dass Er nie in die Hassreden der Juden gegen die Samaritaner eingestimmt hat? Hat Er nicht seine Apostel hart angefahren, als sie in ihrem Zorn Feuer und Schwefel auf die Dörfer der Samariter herabrufen wollten? Und ist nicht eines seiner schönsten Gleichnisse das vom barmherzigen Samariter? Warum sagt Er nichts davon? – Er schweigt und büßt für allen Nationalhass dieser Welt, der das Leben der Völker vergiftet. Und wir? Wir stehen da und fingern verlegen in den dunklen Seiten unserer Kirchengeschichte, in denen geschrieben steht, was Christen mit Christen und mit Juden und mit Heiden getan haben. – Wir stehen da, vor dem dornengekrönten Christus – mit unseren leichtfertigen Pauschalurteilen über andere Völker, mit unserem Unverständnis für fremde Art, mit aller überheblichen Klassifizierung, mit allen subjektiven Abneigungen hin bis zu ausgesprochenen Gehässigkeiten. Wir stehen da – und es kommt uns in den Sinn, dass wir Christen den Weg in den Kasernenhof der Antonia viel öfter und viel früher antreten hätten müssen. Aber ganz umsonst war es jetzt auch nicht!
Es wird uns das nächste Mal bestimmt einen Stich geben, wenn wir wieder einmal sagen: Typisch amerikanisch – lauter Gangster! Hör mir auf mit den Italienern – alles eine Bande! Ach, diese orientalischen Kameltreiber, einer wie der andere! –
Natürlich, wir meinen das alles nicht so ernst. Aber aus vielen kleinen Tropfen Hass und Ablehnung wurde einmal schon eine schmutzigbraune Flut, die sechs Millionen Menschen in den Tod spülte. Darum müssen wir das alles ernster nehmen. Darum müssen wir uns persönlich zusammennehmen und darauf achten, dass nicht unbeherrschte Gefühle und gehässige Gedankenlosigkeiten weiterhin die leeren Seiten der Weltgeschichte besudeln. Und darum dürfen wir vom dornengekrönten Christus nicht nur mit ein paar frommen Gefühlen weggehen.“[1]
Amen.
[1] Aus: Reinhold Stecher, Liebe ohne Widerruf. Betrachtungen. Tyrolia Verlag, Innsbruck Wien München 1981.
(Textgestaltung/Bilder: Witti)